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John Shreve

 

John Shreve
Gleichschaltung
Die nationalsozialistische Revolution auf dem 1933 Lande
Treibgut Verlag; 1. Edition (1. Dezember 2022)
‎ 380 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3947674457
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3947674459
24 €

Wie unter einem Vergrößerungsglas betrachtet der Autor die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation des ländlichen Raums um die Städte Belzig, Treuenbrietzen, Niemegk und Beelitz südwestlich von Berlin am Ende der Weimarer Republik und beschreibt deren Entwicklung im Jahr 1933. Eingebettet in eine Vielzahl von Aufmärschen und Dorffesten und flankiert von Terrormaßnahmen gegen einzelne Personen vollzog sich die „Gleichschaltung“ aller Institutionen und ihrer Mitglieder zügig und kaum unter Zwang. Es entwickelte sich eine Eigendynamik, die die Menschen zunehmend befürchten ließ, nicht mehr dazuzugehören und aus der dörflichen Gemeinschaft ausgegrenzt zu werden. Von den Kirchen bis zu den Kriegervereinen, von den Gesangs- und Sportvereinen bis zu den Imker- und Kleintierzuchtvereinen unterwarfen sich folglich die meisten Menschen gern und freiwillig dem neuen Regime.


John Shreve
Kriegszeit
Das ländliche Deutschland 1914–1919
672 S., 26 Abb., geb.
ISBN 978-3-95410-045-3
36,00 €

Besprechung

Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,
102. Band, Heft 3 (2015) ©Franz Steiner Verlag, Stuttgart

JOHN SHREVE: Kriegszeit: Das ländliche Deutschland 1914-1919. Belzig und Kreis Zauch-Belzig. be.bra, Berlin 2014, 672 S., 36,00 €.

Die 100-Jahr-Feiern des Ersten Weltkrieges sind geprägt von der Wiederentdeckung der Orts- und Erlebnisgeschichte des Krieges. Auch via Europeana, dem neuen Portal, werden die personen- und ortsbezogenen Dokumente aus allen Regionen des Deutschen Reiches jedermann leicht zugänglich. In diesen Rahmen fügt sich die hier anzuzeigende Monographie bestens ein. Belzig (heute: Bad Belzig bei Potsdam) war eine Landschaft im tiefsten Preußen, vollständig geprägt von der protestantisch-militärischen Tradition.
John Shreve, ein in Berlin lebender US-Amerikaner, war schon mit einer Monographie über Wolf Biermann im Westen hervorgetreten. Diese neue Studie basiert nun auf Akten des Kreises Zauch-Belzig im Brandenburgischen Landeshauptarchiv und anderen regionalen Archiven sowie einer interessanten Sammlung publizierter Quellen und regionaler Monographien. Darunter finden sich auch sehr entlegene Schriften, etwa das „Kriegsgedenkbuch 1914-1918 der Parochie Reetz, Kr. Zauch-Belzig, hg. von Pfarrer Noack, Dessau 1919" und die Geschichte des örtlichen Regiments „Graf Tauentzien" (3. Brandenburgisches Infanterie-Regiment Nr. 20). Hinzu kommen zehn Ortschroniken und ein nicht publizierter soldatischer Briefwechsel aus einem Bad Belziger Nachlass.
Der Verfasser hat die Ortsgeschichte vorbildlich in die allgemeine Geschichte des Krieges eingebunden. Seine Chronologie folgt demgemäß übersichtlich dem, was an der Front und in Deutschland geschah und wie sich dies auf die örtliche Bevölkerung auswirkte, bzw. wie diese daran beteiligt war.
Selbstverständlich wird hier, wie in allen Ortsgeschichten des Krieges, dargestellt, wie sich Lebensmittelknappheit, Geldentwertung und Anleihepolitik „vor Ort" abspielten. Die neue Lage der Frauen, Kinder und Jugendlichen wird gleichfalls (leider etwas zu knapp und nicht perspektivisch) geschildert. Wichtig ist, dass die Chronologie beachtet wird und man auf diese Weise genau verfol­gen kann, wie sich etwa die Erfahrung des Hungers im Laufe der Jahre entwickelte.
Originell ist, dass Shreve konsequent auch die Kriegserlebnisse der Belziger Soldaten aus der Regimentsgeschichte und vielen anderen Quellen herausfiltert, beispielsweise die Gräueltaten in Belgien im August 1914. Nach einer knappen, aber sehr präzisen Darstellung der belgischen „garde civique" und der Problematik, ob deren Widerstand kriegsrechtlich legitim gewesen sei, zeigt er die Reaktion der Soldaten eben des Belziger Regiments, die vor Verviers eingesetzt waren, dort angegriffen wurden und die übliche Überreaktion zeigten, die dann zu den Massakern an der Zivilbevölkerung führte. Die Regimentsgeschichte spricht sogar explizit davon, dass die Panik der Soldaten oft vom „friendly fire" hervorgerufen wurde:
„Die Truppe wurde nach kurzer Lähmung von höchster Unruhe erfasst, aus dem Marsche warf sich alles hin, und nun begann ein regelloses Durcheinanderschießen, erst von wenigen dann von vielen. Die Geschosse schlugen gegen die Wände, wirbelten dort Kalkstaub auf und täuschten dadurch den erhitzten Sinnen feindliches Mündungsfeuer vor zu einer Zeit, als der Feind längst das Weite gesucht hatte." (S. 63)
Ähnliches gilt für die Schlacht von Verdun 1916, die aus dem Blickwinkel sowohl der Belziger Öffentlichkeit als auch der Soldaten des Infanterie-Regiments Nr. 20 erzählt wird, die tatsächlich vor Verdun kämpften und dort ungeheure Verluste erlitten. Einprägsamer als die immer wieder ge­nannten 370.000 deutschen Gesamtverluste ist sicherlich, wenn man hier detailliert erfährt, wie das Regiment im Laufe von zwei Monaten regelrecht „aufgerieben" wurde. Zweimal wurde es vor Verdun eingesetzt und bei jedem Mal „verlor" es ungefähr die Hälfte seiner Mannschaft, nämlich 1.500 Mann. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, wurde das Regiment nach kurzer „Erholung" und Auffüllung mit neuen Rekruten auch an der Somme eingesetzt, wo es erneut einen ungeheuren „Blutzoll" gab. Näher als es hier geschieht, wird man dem „Kriegserlebnis" der Soldaten nicht kom­men können
Diese Darstellung der „Verluste" wird abgerundet durch deren Rezeption in der Heimat. Shreve zeigt anhand der örtlichen Quellen, wie wenig man vom Massentod wusste. Im Kreis Zauch-Belzig waren es etwa im 1. Halbjahr 1916 „nur" 112 Todesnachrichten. Also konnte z. B. der örtliche Pfarrer unverdrossen weitere Opferbereitschaft für Deutschlands Ehre und Zukunft einfordern. Dieser Pfarrer war im Übrigen so chauvinistisch, dass er den deutschen U-Bootkrieg nicht nur schönredete, sondern auch von der Kanzel aus bekannt gab, dass sein demnächst das Licht der Welt erblickender Sohn den Vornamen Uboot erhalten sollte. Laut Geburtsregister erhielt der am 29.2.1915 geborene Junge tatsächlich den Namen Karl Joachim Rudolf Uboot Puschmann.
Ich glaube, dass man eine Ortsgeschichte des Ersten Weltkrieges nicht kohärenter schreiben kann, als es John Shreve gelungen ist.                                 
Freiburg                           GERD KRUMEICH